0. Einführung
Die große Bedeutung von Kontakten
Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Vermeidung und Beseitigung von zwischenmenschlichen Konflikten. Es handelt sich um eine Thematik, die von erheblicher Bedeutung für das alltägliche Leben ist, denn Kontakte zu anderen Personen - und damit auch die Möglichkeit des Vorliegens von Konflikten - sind für die meisten Menschen ein wesentlicher Bestandteil des Lebens.
So wachsen Kinder zunächst in der Familie auf, wo auch heutzutage noch meist die Mütter als primäre Bezugspersonen und andere Familienmitglieder wie Väter und Geschwister von Bedeutung sind. Allmählich vergrößert sich dann die Personenzahl um den weiteren Verwandtenkreis wie Großmütter und Großväter, Tanten und Onkel, Cousinen und Cousins. Später kommen Gleichaltrigengruppen und andere Erwachsene in Gestalt von Erzieherinnen/Erziehern im Kindergarten und Lehrerinnen/Lehrern in der Schule hinzu. Kinder treffen sich ebenfalls mit ihresgleichen nach der Schule, treten Vereinen oder anderen Freizeitorganisationen bei. Es entwickeln sich länger andauernde Freundschaften zum gleichen, später auch zum anderen Geschlecht. Schließlich sind Kinder Erwachsene, die eine Ausbildung beginnen und so neue Kontaktmöglichkeiten erhalten. Sie ergreifen einen Beruf und arbeiten so mit anderen Menschen zusammen, binden sich langfristig an einen Partner in Form einer Ehe oder Lebenspartnerschaft, bekommen Kinder und darüber vermittelt wieder weitere Kontakte zu anderen Eltern, Erziehern, Lehrern, Freunden ihrer Kinder etc. Später im fortgeschrittenen Alter wird ggf. der vertraute häusliche Bereich mit dem Umzug in ein Alten- oder Pflegeheim verlassen, und es ergibt sich noch einmal ein veränderter Kontaktbereich.
Sind bisher unterschiedliche Kontakte in Abhängigkeit vom Lebenslauf erwähnt worden, so lässt sich eine Vielfalt von Beziehungen auch vor Augen führen, wenn man sich an einem Tagesablauf orientiert.
Vielleicht halten Sie einmal für einen Augenblick inne, gönnen sich eine Tasse Tee oder Kaffee und vergegenwärtigen sich die Kontakte, die Sie am gestrigen Tag hatten. Mit welchen Personen standen Sie am frühen Morgen, Vormittag, Nachmittag und am Abend in Kontakt? Sind Sie möglicherweise überrascht über die Kontakthäufigkeit?
So haben Personen an einem Tag, jeweils in Abhängigkeit von besonderen Lebenssituationen, häufig mit bestimmten Menschen zu tun: mit dem Ehepartner oder Lebensgefährten, Kindern, Arbeitskollegen, Nachbarn, Freunden, Bekannten, Verwandten oder sonstigen mehr oder minder fremden Personen wie Fahrgästen, Verkäufern, Passanten, Besuchern von Veranstaltungen etc..
Die Kontakte werden dabei als mehr oder minder angenehm erlebt.
So kann es sein, wenn Sie berufstätig und zugleich verheiratet sind, dass Ihr ebenfalls berufstätiger Partner sich morgens allzu lange im Badezimmer aufhält, während Sie in Eile sind. Im vollen Bus auf dem Weg zur Arbeit werden Sie, während Sie stehen, von hinten angerempelt. Im Büro raucht neuerdings ein Arbeitskollege, dem Sie gegenüber sitzen; ein anderer ist ungewohnt schweigsam. Ihr Chef hat Ihnen heute schon wieder eine Sonderarbeit verpasst, die es unmöglich macht, eine Terminarbeit zu erledigen. Kommen Sie nach Hause, so sagt Ihre Frau mit stockender Stimme, dass ihre Freundin eine Verabredung nicht eingehalten habe, und möchte mit Ihnen hierüber sprechen, oder die Kinder wollen sofort mit Ihnen spielen, obgleich Sie erschöpft sind. Abends würden Sie gern mit Ihrem Partner einen Film im Kino anschauen, dieser möchte jedoch zu Hause bleiben. Ihre älteren Kinder kommen spätabends nach Hause und machen Lärm, während Sie schon schlafen und dadurch aufgeweckt werden.
Wenngleich Kontakte aufgeführt wurden, die im Allgemeinen als unangenehm angesehen werden, so hat der Alltag jedoch auch eine Vielfalt von angenehmen Begegnungen zu bieten, die das Leben lebenswert machen.
Das Essen steht schon auf dem Tisch, als Sie nach Hause kommen, obwohl Sie damit nicht gerechnet haben. Der Chef teilt Ihnen mit, dass eine Beförderung ansteht. Die Tochter sagt zu Ihnen: „Vati, ich hab’ Dich lieb“. Sie sehen sich mit Ihrem Partner einen schönen Film an. Sie fahren nächste Woche mit ihrer Familie in den Urlaub und freuen sich schon darauf. Ihre Freundin bedankt sich bei Ihnen mit einem kleinen Präsent dafür, dass Sie in ihrem Urlaub für sie die Treppe geputzt haben etc.
Wird der Beziehungsalltag also sowohl positiv wie negativ erlebt, so ist es trotzdem von großer Bedeutung für das Wohlbefinden und die Qualität von Beziehungen, wie mit Verhaltensweisen von anderen umgegangen wird, die ein Problem darstellen. Damit sind wir beim Thema dieser Arbeit.
.... sind Konflikte darüber hinaus auf der Ebene des Alltagslebens angesiedelt. Dieses ist nun Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Es werden hier Konflikte zwischen zwei Personen in verschiedenen Lebensbereichen behandelt, d. h. solche in Gruppen wie z. B. der Ehe, Familie, einer Arbeitsgruppe oder einer Schulklasse.
Waren in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts Männer berufstätig und Frauen primär im Haushalt tätig, so hat sich diese Situation grundlegend geändert: Auch Frauen sind heute zum größten Teil berufstätig. Einhergehend mit einer veränderten Frauenrolle, muss auch der Mann sein Rollenverständnis überprüfen. Männer und Frauen müssen heute mehr als früher aushandeln, was eigentlich ihre Aufgaben sind.
Wenn auch im Beruf Konflikte vermieden werden durch die Geltung bestimmter Normen, können nichtsdestotrotz sowohl zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern als auch zwischen Arbeitskollegen Konflikte unterschiedlichster Art bestehen.
In der Schule können Schüler im Unterricht reden, umherlaufen oder sonstigen Lärm machen, andere Schüler beleidigen oder schlagen, Lehrer beleidigen oder ihnen nicht antworten, Gegenstände zerstören, verspätet zum Unterricht erscheinen oder zu früh die Schule verlassen, sich am Unterricht nicht beteiligen, Hausaufgaben nicht erledigen etc.. Schüler ihrerseits können sich vom Lehrer bei der Zensurengebung oder der Bewertung sonstigen Schülerverhaltens ungerecht behandelt fühlen, von ihm beleidigt werden, sich im Unterricht langweilen etc..
Das Lösen und Vermeiden von Konflikten
Im Alltagsleben wird das Bestehen von Konflikten zumeist negativ bewertet, als Folge von negativen Erfahrungen mit Konfliktlösungen. Der Versuch, Konflikte zu lösen, endet häufig mit psychischen Verletzungen, Niederlagen und verschlechterten Beziehungen als Folge des destruktiven Umgangs mit Konflikten.
So erleben Kinder häufig zu Hause, dass Konflikte mit den Eltern von diesen durch den Einsatz von Bestrafung gelöst werden. Solche Erfahrungen sind mit negativen Gefühlen (Wut, Ärger, Trauer, Enttäuschung, mangelnder Selbstwert etc.) verbunden. Umgekehrt können jedoch auch Eltern im Konflikt den Kürzeren ziehen und Kinder gewähren lassen, „um des lieben Friedens willen“. Dieses ist dann ebenfalls verbunden mit negativen Gefühlen den Kindern gegenüber.
Wird das Bestehen von Konflikten negativ bewertet, so scheut man sich auch, Konflikte offen auszutragen. Zu beachten ist jedoch, dass das Aussitzen von Konflikten zu einer Eskalation beitragen kann: Irgendwann platzt einem der Kragen, und es erfolgen dann (emotionale) Reaktionen, die dem aktuellen Konfliktanlass nicht angemessen sind.
Wenn hingegen eine Auseinandersetzung zwischen Personen erfolgt, dann geschieht dies oft mit dem Ziel, sich im Konflikt durchzusetzen.
Entgegen bisheriger Erfahrungen mit der Lösung von Konflikten im Sinne von Gewinnen und Verlieren, sollen in dieser Arbeit Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie sich Konflikte zur Zufriedenheit aller daran Beteiligten lösen lassen. Damit soll dann zugleich auch eine positive Einstellung zur Konfliktlösung gefördert werden.
Ist das Lösen von Konflikten ein Thema, so ist deren Vermeidung ein weiteres. Gemäß dem Motto „Vorbeugen ist besser als heilen“ hat das Vermeiden von Konflikten dabei Priorität und wird deshalb hier auch ausführlich behandelt.
Theoretische Grundlagen
Das partnerschaftliche Modell der Konfliktlösung und –vermeidung grenzt sich einerseits ab von Versuchen, Konflikte zu lösen oder zu vermeiden durch Einsatz von Macht, indem in einer Zweierbeziehung die andere Person mittels Belohnung oder Bestrafung zu einem bestimmten Verhalten veranlasst werden soll. Statt dessen sollen Personen freiwillig zu Lösungen gelangen. Zum anderen sollen Konfliktlösungen erfolgen in einem offenen Gespräch, d. h. es wird abgelehnt, dass eine Person mittels strategischem (d. h. die Absichten verdeckten) Verhalten zu einer für sie günstigen Konfliktlösung kommt.
Die nachfolgenden Ausführungen orientieren sich an einem partnerschaftlichen Beziehungsmodell von Thomas Gordon, das hauptsächlich von ihm in verschiedenen „Beziehungskonferenzen“ dargestellt wurde.
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Welche Inhalte sind nun Gegenstand des Gordon-Modells? In allgemeiner Weise lässt sich sagen, dass sich Gordon mit der Lösung verschiedenartiger Probleme beschäftigt:
Verbringen wir im Alltag viel Zeit mit anderen Personen, so erfahren wir auch häufig von ihren Problemen. Personen offenbaren sich dabei um so mehr, je intimer die Kontakte sind. Wollen wir ihnen nun bei der Lösung ihrer Probleme helfen, so stellt sich die Frage, wie das am besten geschehen soll. (a)
Es kommt ebenso vor, dass wir beobachten, wie andere Personen miteinander streiten, ohne dass sie zu einer Lösung ihres Konflikts kommen. Möglicherweise handelt es sich um Personen, die uns nahestehen. Wir können uns dann die Frage stellen, wie es unter unserer Mithilfe möglich ist, dass der Streit gut gelöst werden kann. (b)
Habe ich häufig Kontakte mit anderen Personen, so lässt es sich nicht vermeiden, dass sie mir gegenüber auch Verhaltensweisen zeigen, die für mich unannehmbar sind. Ich kann mich dann fragen, was ich tun kann, damit dieses Verhalten unterlassen wird. (c)
Personen zeigen augenblicklich kein Verhalten, das für mich unannehmbar ist. Ich kann jedoch annehmen, dass das ggf. in der Zukunft der Fall ist und mir so die Frage stellen, wie ich ein derartiges Verhalten verhindern kann. (d)
Da sich diese Arbeit mit dem Vermeiden und einvernehmlichen Lösen von Konflikten beschäftigt, wird auf nachfolgende Gordonsche Themen Bezug genommen:
Vermeiden von Konflikten
Einvernehmliches Lösen von Konflikten
Das einvernehmliche Lösen eines Konflikts kann sich einmal darauf beziehen, dass ich einen Konflikt mit einem anderen habe, ich also in der Auseinandersetzung Partei (Betroffener) bin (e), als auch darauf, dass andere einen Konflikt miteinander haben, ich also nicht Betroffener, sondern Außenstehender bin, der eine Vermittlungsfunktion übernimmt (b).
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Diese Arbeit unterscheidet sich von dem in den Gordon-Büchern dargestellten Beziehungskonzept dadurch, dass bei einigen Themen zusätzliche Informationen eingefügt wurden, die zu einer vertiefenden Darstellung führen. Darüber hinaus wurden neue Themen hinzugefügt und damit der Anwendungsbereich erweitert. Gleichzeitig wurden Aussagen präzisiert und systematisiert, und letztlich wird die Darstellung des Beziehungskonzepts durch zahlreiche eigene Beispiele angereichert.
Zielgruppe
Die Arbeit wendet sich an Leser, die ein besonderes Interesse an der Vermeidung und dem befriedigenden Lösen von Konflikten haben. In Frage kommen so Personen, die von Berufs wegen mit vorgenannten Sachverhalten zu tun haben, aber auch solche, die ihre Paar- oder Eltern-Kind-Beziehung verbessern wollen.
Wenngleich Methoden des Vermeidens und Beseitigens von Konflikten in dieser Arbeit an vielen Beispielen verdeutlicht werden und in Form von Übungen (siehe Anhang) und Empfehlungen, partnerschaftliches Konfliktverhalten im Alltag auszuprobieren, die Gelegenheit zur Anwendung besteht, können Leser ihre Fertigkeiten noch verbessern durch eine systematische Einübung neuen Konfliktverhaltens in Form eines Trainingsprogramms. Derartige Trainings werden u. a. von Gordon Training International Inc. angeboten (siehe auch Literaturliste).
Vorgehensweise in der Arbeit
Das Lösen und Vermeiden von Konflikten sind die Themen dieser Arbeit. Daraus ergeben sich verschiedene Einzelthemen:
Besteht das Ziel darin, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sich Konflikte zufriedenstellend lösen lassen, so muss zunächst einmal dargelegt werden, mit welchem Bedeutungsgehalt der Konfliktbegriff in dieser Arbeit versehen wird. (1.)
Es werden in dieser Arbeit mit dem Bedürfnis- und Wertkonflikt zwei Konfliktformen vorgestellt, die nach unterschiedlichen Beeinträchtigungen klassifiziert sind: Liegen Bedürfniskonflikten Bedürfnisbeeinträchtigungen zugrunde, so sind bei Wertkonflikten entsprechend Wertbeeinträchtigungen betroffen. Was nun eine Bedürfnis- von einer Wertbeeinträchtigung unterscheidet, soll zunächst verdeutlicht werden. (2.)
In welcher Weise Konflikte vermieden bzw. gelöst werden sollen, ist mit abhängig davon, welche Wertvorstellungen vertreten werden. (3.)
Es wird sodann die Aufmerksamkeit auf das Thema „Bedürfniskonflikte“ gelenkt. Dabei wird als erstes der Überlegung Rechnung getragen, dass es wünschenswerter ist, Konflikte zu vermeiden, als solche entstehen zu lassen. Als Mittel der Konfliktvermeidung werden dabei primär bestimmte Kommunikationsformen vorgestellt. (4.1.)
Als nächstes wird der Sachverhalt thematisiert, dass Konflikte auch in Form von Wertbeeinträchtigungen vorliegen können. (5.)
Sind das Lösen von Konflikten zwischen zwei Personen sowie deren Vermeidung auch die Hauptthemen, so soll zum Schluss der Arbeit dargestellt werden, wie eine Person bei einem Konflikt zwischen anderen vermitteln kann. (6.).
Der Arbeit sind noch Anhänge zugefügt mit unterschiedlichen Inhalten:
Leser können zu einzelnen Themen Übungen durchführen (Anhang 1).
Die einzelnen Methoden der Konfliktlösung und -vermeidung werden noch einmal im Gesamtzusammenhang dargestellt (Anhang 2).Schließlich erfolgen einige Überlegungen zur Anwendung des partnerschaftlichen Konfliktkonzepts auf Kinder (Anhang 3).