Einführung
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Wenn ich meine Mutter einmal wöchentlich vormittags besuchte, so blieb ich zumeist 2 1/2 Stunden. Wir hatten insofern eine "Arbeitsteilung" vereinbart, dass ich, aus einer anderen Stadt kommend, Brötchen für das Frühstück mitbrachte und meine Mutter den anderen Teil zum Essen beisteuerte. Nach dem Frühstück gingen wir dann ins Wohnzimmer, wenn nicht von mir manchmal noch gewisse Dinge zu erledigen waren. Dort unterhielten wir uns, hörten Musik oder sahen uns Filme von Peter Alexander an – meine Mutter wurde nach dem Tod ihres Mannes Fan von ihm und kaufte sich viele Musik-CDs und Film-DVDs. In den Unterhaltungen berichtete meine Mutter häufig von früher, so dass ich "eines Tages", es war im Januar 2010, zu ihr sagte: "Wo Du doch so viel aus der Vergangenheit zu erzählen hast, wäre es da nicht schön, wenn Du mir in ausführlicherer Weise einmal von Deinem Leben berichten würdest? Wir könnten das in Form eines längeren Interviews machen." Meine Mutter war zunächst irritiert und verunsichert, jedoch schließlich damit einverstanden, verwirklichte sich doch so für sie ein lang gehegter Wunsch.
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Die Gespräche wurden dabei in der Weise von mir vorbereitet, dass ich zunächst einmal jeweils ein bestimmtes Thema auswählte und meine Mutter hierzu Aussagen machte. Hatte ich auf diesem Weg Informationen erhalten, nahm ich das bei einem nächsten Treffen zum Anlass, meine Mutter in einer systematischen Weise zu befragen. So wurde sie von mir von Anfang 2010 bis zum Frühjahr 2011 befragt. Die Gesamtdauer des Interviews belief sich schließlich auf 17 Stunden Bandmaterial. Die Tonbänder blieben dann einige Jahre unbeachtet, d. h. bis zum Januar 2016 – zwischenzeitlich starb meine Mutter 2013 –, bis als Folge eines Verwandtentreffens die Idee von meiner Frau und mir geboren wurde, die Tonbandaufzeichnungen für eine Buchveröffentlichung zu verwenden. Durch die Bereitschaft und eine bewundernswerte Ausdauer meiner Frau wurden dann die Interviews innerhalb eines Zeitraums von 13 Monaten niedergeschrieben. Zugleich wurde in der Verwandtschaft nach Bildern von meiner Mutter Ausschau gehalten, die das Buch bereichern könnten. Innerhalb eines Zeitraums von 3 Monaten wurde dann das vorliegende Interviewmaterial von meiner Frau und mir gemeinsam bearbeitet, so dass es schließlich zur Buchveröffentlichung kam.
Meine Mutter – erste biographische Daten
Soll von dem Leben meiner Mutter berichtet werden, so handelt es sich um den Lebens-laufbericht einer Frau, die 1928 in Düdelingen, einer Stadt in Luxemburg, als Älteste von drei Geschwistern geboren wurde. Ihr Vater, ein ungelernter Arbeiter deutscher Nationalität, die Mutter eine Luxemburgerin, eine ungelernte Hausfrau. Die Familie kam 1939, über ein Aussiedlerheim in Mettmann, nach Oberhausen ins Ruhrgebiet, da hier der Vater als Hüttenarbeiter Beschäftigung fand. Meine Mutter verlor ihren Vater schon im Januar 1945, gerade einmal sechzehnjährig, als Folge von Kriegseinwirkungen. Sie heiratete 1949 meinen Vater, einen gelernten Schreiner, bekam mit ihm zwei Kinder und war hauptsächlich - von einigen Jahren halbtäglicher Raumpflegearbeit und Zeitungsaustragen abgesehen - Hausfrau. Sie verlor ihren Mann 2004, als sie 76-jährig war, und verstarb selbst 2013, d. h. mit 85 Jahren.
Vom Interview zum Buch
Das insgesamt 17-stündige Interview bestand aus Fragen zu einzelnen Themenbereichen, die von meiner Mutter beantwortet wurden. Dabei nahm ich zum Zweck eines vertiefenden Antwortens eine Gesprächshaltung ein, die mit 'Aktivem Zuhören' bezeichnet wird. Ein derartiges Zuhören animiert den Befragten, hier hauptsächlich über das Paraphrasieren, d. h. sinngemäßes Wiederholen von Äußerungen, dazu, sich über angesprochene Sachverhalte mehr Gedanken zu machen. Es wird so die Selbsterforschung gesteigert, so dass es zu detaillierteren Äußerungen kommt. Des Weiteren erfolgte häufig ein Nachfragen, das ebenfalls zu einem Mehr an Informationen führte.
Die so gewonnenen Aussagen wurden nicht vollständig und in Gänze wiedergegeben, da viele Äußerungen für den Leser nicht von Interesse sind, handelte es sich dabei doch unter anderem um Wiederholungen, Abschweifungen, langatmige Klarstellungen von Sachverhalten, die, vollständig wiedergegeben, ermüdend sind, oder aber um Detailwissen, z. B. über das Wohnumfeld, das für den Leser aufgrund mangelnder Ortskenntnis kaum nachvollziehbar bzw. schlicht langweilig ist. So wurde folgende Vorgehensweise gewählt: Den Interviewdaten wurden Zusammenfassungen vorangestellt, um den Lesern eine erste Orientierung zu geben. Sodann wurden Aussagen, die als informativ angesehen wurden, wortwörtlich oder ihrem Sinn entsprechend wiedergegeben. Dabei wurden Auslassungen vorgenommen hinsichtlich von Aussagen, die dem jeweils in Rede stehenden thematischen Kontext zuwiderliefen. Gleichfalls wurden Aussagen ergänzt, wo dieses notwendig war, um den Inhalt von Äußerungen zu verstehen.
Einbindung von biographischen Äußerungen in einen (sozial-) geschichtlichen Zusammenhang
Betrachtet man die Lebenszeit meiner Mutter, so umfasst diese die Zeitspanne von 1928 – 2013. Sie ist eingebunden in geschichtliche (soziale) Ereignisse größeren Ausmaßes, die das Leben meiner Mutter begleitet und zum Teil auch mitbestimmt haben und deshalb Erwähnung finden. Da die Darstellung derartiger Ereignisse gegenüber der Biographie eine geringere Bedeutung haben, ist mit der Wiedergabe von geschichtlichen Ereignissen kein wissenschaftlicher Anspruch verbunden. Das hat dann zur Folge, dass bei der Gewinnung von Daten nicht auf wissenschaftliches Material im originären Sinn rekurriert wird, sondern eine Bezugnahme auf Informationsquellen erfolgt, die in allgemeiner Weise jedem, der über ein Internet verfügt, zugänglich sind. Entsprechende Quellenangaben erfolgen am Ende des Buches.
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Biographie-Themen
Nimmt man auf den Lebenslauf einer Person Bezug, so stellt sich die Frage, welche Le-bensphasen man bilden soll: Von welchen Gesichtspunkten soll man sich bei deren Wahl leiten lassen? Lässt man sich von entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten leiten, so kann man (ganz) grob die Kindheit vom Heranwachsen und vom Erwachsenensein unterscheiden mit ihren je spezifischen Anforderungen (Lebensereignissen). Des Weiteren lassen sich Lebensphasen einteilen hinsichtlich gesellschaftlicher Ereignisse, die ein Leben entscheidend verändern können. Im Folgenden wird Bezug genommen auf eine Kombination vorgenannter Gesichtspunkte.
Das bedeutet dann, dass im Einzelnen nach folgenden Phasen eingeteilt wurde:
Meine Mutter hat die ersten Lebensjahre (1928 – 1939) und damit ihre Kindheit in Luxemburg verbracht (Teil I).
Sie siedelte sodann mit der Familie von Düdelingen nach Oberhausen im Oktober 1939 über und war zwischenzeitlich im Aussiedlerheim in Mettmann und bei Verwandten. Der Prozess der Übersiedlung wird als Zwischenphase behandelt zwischen dem Verlassen der alten und dem noch nicht Ankommen in der neuen Heimat (Teil II).
Als eine weitere einschneidende Lebensphase wird das Leben im Zweiten Weltkrieg behandelt, das ein normales Weiterleben schwer möglich machte. Bezug genommen wird so auf Erinnerungen meiner Mutter hinsichtlich des Lebens zur Zeit zwischen September 1939 und Mai 1945 und auf die Nachkriegszeit bis 1948 (Teil III).
1948 lernte meine Mutter meinen Vater kennen. Es folgte die Hochzeit ein Jahr später und die Geburt der Kinder 1950 und 1951. Es entwickelt sich ein Ehe- und Familienleben (Teil IV).
Eine weitere einschneidende Phase beginnt, als die Kinder Anfang und Mitte der siebziger Jahre das Haus verlassen und so die Eheleute alleine auf sich gestellt sind; zudem tritt mit der Pensionierung des Ehemannes Ende der siebziger Jahre eine weitere bedeutende Veränderung ein (Teil V).
Schließlich verändert sich die Lebenssituation meiner Mutter noch einmal dramatisch mit dem Tod ihres Ehemannes 2004 (Teil VI).
Es fällt bei den Interviews hinsichtlich der Lebensphasen auf, dass meine Mutter umso häufiger Angaben machte, je weiter die Ereignisse zurücklagen. D. h. je mehr das Interview Erlebnisse in der Gegenwart zum Thema hatte, desto spärlicher fielen die Informationen aus. Das mag damit zusammenhängen, dass die Kindheits-, Jugend- und frühe Erwachsenenzeit durch die Übersiedlung von Luxemburg nach Deutschland, der nachfolgende Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit eine ereignisreiche Zeit war.
Beziehen sich die mit meiner Mutter geführten Interviews auch hauptsächlich auf einzelne Lebensphasen, so wird zum Abschluss auf ihre Einstellung zu Beziehungen Bezug genommen (Teil VII)
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Der Zweite Weltkrieg brach im September 1939 mit dem Überfall Deutschlands auf Polen aus und dauerte bis Mai 1945. Er hatte zur Folge, dass die männliche Bevölkerung im wehrfähigen Alter zum Dienst in der Wehrmacht eingezogen wurde. Der dadurch erhöhte Arbeitskräftebedarf wurde dabei weniger durch Erhöhung der Erwerbstätigkeit von Frauen gedeckt, als vielmehr durch Zwangsarbeiter aus den besetzten Gebieten, Kriegsgefangene und durch Verlagerung von Arbeiterinnen von stillgelegten oder kriegsunwichtigen Betrieben in die Land- und Kriegswirtschaft. Stufenweise wurde die bis dahin geltende wöchentliche 48-stündige Arbeitszeit erhöht.
Ebenfalls in Stufen wurde bei Kriegsbeginn in Bezug auf Lebensmittel und Textilien die Zwangsrationierung eingeführt, die über Lebensmittel- und Reichskleiderkarten Waren zugänglich machte.
Für weibliche Jugendliche ab 18 Jahren wurde 1939 der sechsmonatige Reichsarbeitsdienst zur Pflicht, der ab August 1942 um ein halbes Jahr Kriegshilfsdienst verlängert wurde.
Das Radiohören, Lesen (u. a. auch eine Flut von kriegsverherrlichender Literatur) und auch das Kino gehörten zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen. Beliebte Filmstars der Zeit sollten mit Unterhaltungsfilmen für eine Ablenkung von den Alltagsproblemen sorgen.
Ab 1942 waren Luftangriffe auf Großstädte an der Tagesordnung. Das führte dazu, dass Menschen einen großen Teil ihrer Zeit in Luftschutzräumen oder Hauskellern verbringen mussten, für ausgebombte Familien mussten Notquartiere geschaffen werden. Die Kinderlandverschickung und Evakuierungsmaßnahmen ganzer Familien nahmen zu.
Im Laufe des Krieges wurde der Alltag von Kindern und Jugendlichen immer weniger von der Schule bestimmt, da sie klassenweise zum Ernteeinsatz verpflichtet wurden. Immer häufiger stellten Schulen bei Einberufung zum Militär das Notabitur aus. 14- bis 18-jährige Hitlerjungen wurden in Wehrertüchtigungslagern in Militärtaktik und an Waffen ausgebildet. Im August 1943 wurde die erweiterte Wehrpflicht eingeführt und die Jungen unter 18 Jahren aus den Lagern in die Wehrmacht eingezogen. 15-Jährige ersetzten ab 1943 die zur Front eingesetzten Flaksoldaten als Luftwaffenhelfer. Schließlich wurden mit der Einberufung des Volkssturms im Herbst 1944 Jugendliche an die Waffen gebracht. Gegen Kriegsende, d. h. ab Oktober 1944, flüchteten viele Menschen aus Ostpreußen und Schlesien aus Angst vor dem Einrücken der Roten Armee.
Mit dem Kriegsende am 8.5.1945 in Form einer bedingungslosen Kapitulation Deutschlands konnte dann auch eine "Opferbilanz" aus deutscher Sicht gezogen werden. Es kamen ca. 5,18 Millionen deutsche Soldaten ums Leben und ca. 1,17 Millionen Zivilisten (Zahlen des Militärischen Forschungsamts). Darüber hinaus kamen 11,5 Millionen Deutsche in Kriegsgefangenschaft. Des Weiteren waren 2,25 Millionen Wohnungen zerstört und 2,5 Millionen beschädigt, die Versorgung mit Strom, Gas und Wasser oftmals zusammengebrochen und viele Verkehrs- und Transportwege zerstört. Ca. 11 Millionen Deutsche suchten aufgrund von Flucht und Vertreibung aus Ost-, Mittel- und Südosteuropa eine neue Heimat, davon 8 Millionen in der Bundesrepublik. Sie lebten zunächst in Lagern, Notquartieren oder in Privatfamilien. Nicht selten kam es zu Schwierigkeiten im Zusammenleben zwischen Einheimischen und Vertriebenen.
Die Nachkriegssituation lässt sich insgesamt wie folgt beschreiben:
Aufgrund der Zerstörung von Wohnraum (9 Millionen Obdachlose) und des großen Zustroms von Flüchtlingen und Vertriebenen kam es zu einer großen Wohnungsnot. So fehlten insgesamt etwa 5,5 Millionen Wohnungen. Auf diese Situation reagierten die westlichen Besatzungsmächte mit kurzfristigen gemeinsamen Maßnahmen. Darüber hinaus schafften die Menschen Schutt aus den Städten und gewannen durch das Reinigen von Ziegeln neues Baumaterial. Erwähnung finden in diesem Zusammenhang auch die sogenannten "Trümmerfrauen".
Durch den Tod vieler Soldaten und der enormen Zahl von Kriegsgefangenen, die erst allmählich entlassen wurden, lebten zum Kriegsende in ganz Deutschland 36,6 Millionen Frauen und 29,3 Millionen Männer. Bei den jüngeren Jahrgängen kamen auf 160 Frauen 100 Männer. Zahlreiche Familien bestanden aus Großeltern, Frauen und Kindern.
Die Männer, die aus der Gefangenschaft kamen, waren von den Kriegserlebnissen zum Teil traumatisiert und gesundheitlich geschädigt und fanden Ehefrauen vor, die selbstständiger geworden waren und sich so entfremdet hatten. Ein nochmaliges Zusammenleben wurde so erschwert.
"Not macht erfinderisch". In diesem Sinn wurde viel improvisiert, um auf den ersten Blick unnütze Materialien umzuwandeln in brauchbare Gegenstände.
Die staatliche Lebensmittelversorgung brach bei Kriegsende komplett zusammen. Es gab zwar Lebensmittelkarten, diese reichten jedoch nicht aus. Internationale Hilfsorganisationen versuchten, mit Lebensmittelsendungen die schlimmste Not zu lindern. Als Folge der knappen Nahrungszuweisung setzten Hamsterfahrten von Städtern aufs Land ein. Darüber hinaus tauschten Menschen auf dem Schwarzmarkt Devisen, Schmuck und andere Sachwerte gegen Nahrungs- und Genussmittel ein. Mit der Währungsreform von 1948 normalisierte sich dann das Warenangebot.
Schließlich soll noch angemerkt werden, dass
Deutschland 1945 von den Siegermächten Frankreich, England USA (die sogenannten Westzonen) und der UdSSR (die sogenannte Ostzone) in Besatzungszonen aufgeteilt wurde und so seine staatliche Souveränität verlor;
im selben Jahr die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse gegen verantwortliche Nationalsozialisten begannen;
eine Entnazifizierung der Bevölkerung begonnen wurde mit dem Ziel, Nationalsozialisten aus verschiedenen öffentlichen Bereichen zu entfernen;
eine politische Umerziehung der Bevölkerung angestrebt wurde mit dem Ziel der Aufklärung über den Nationalsozialismus und der Vermittlung von demokratischen Idealen u. a. über Filmvorführungen, Hörfunksendungen und Aufsätzen in Zeitschriften;
1947 mit dem Marschall-Plan für Westeuropa und damit auch für Deutschland ein von Amerika ausgehendes Hilfsprogramm initiiert wurde.
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Zwei Pflichtjahre im Hunsrück (1942 - 1944)
Mit dem Absolvieren eines Pflichtjahres im Hunsrück wurde meine Mutter mit gerade einmal 14 Jahren für zwei Jahre vom Elternhaus getrennt, um eine für sie ungewohnte Landarbeit zu verrichten und sich erneut in einer neuen sozialen Umwelt einzurichten. Sie berichtete mir dabei über verschiedene Ereignisse wie die Anfahrt zum Hunsrück, ihren ersten Eindruck vom Bauernhof, ihre Aufgabenbereiche auf dem Bauernhof, die Freizeitgestaltung, ihre zwischenzeitliche Rückkehr nach Oberhausen im Urlaub und von beeindruckenden Ereignissen wie z. B. einer Schweineschlachtung.
Unterscheidung Pflicht- vom Landjahr
"Du bist im April 1942 aus der Schule gekommen, oder?"
"Ja. Von da aus bin ich gleich - ich war vielleicht ein paar Tage zu Hause - ins Pflichtjahr gefahren."
"Es wurde damals zwischen Pflicht- und Landjahr unterschieden?"
"Im Landjahr leben die Jungen und Mädchen die ganze Zeit im Lager und gehen nur stundenweise zu den Bauern und helfen da. Im Pflichtjahr bist du die ganze Zeit bei den Bauern, du wohnst da ... Der Papa war ja im Landjahr. Die haben da noch Sport getrieben, sind z. B. Schwimmen gegangen oder haben so eine Tour gemacht."
"Es gibt im Landjahr mehr Gemeinschaftserlebnisse von Gleichaltrigen?"
"Ja, die waren mehr in Gemeinschaft. Also Gemeinschaft hab‘ ich nie so gern gehabt. Ich hab' mich da nicht so wohlgefühlt ... Ich hab‘ das auch nie gerne gehabt, mit anderen Mädchen gemeinsam zum Tanzen zu gehen. Ich hatte mich immer nur mit einem Mann verabredet. Und wenn so am Nebentisch so viele Frauen da saßen und waren so am Kichern, das mochte ich nicht."
"Dann war es für Dich ja ganz gut, dass Du ins Pflichtjahr kamst."
"In den umliegenden Dörfern, wo ich untergebracht wurde, gab es noch andere Schülerinnen von unserer Schule, mit denen ich mich schon mal getroffen hatte."
"Warum bist Du denn ins Pflichtjahr gekommen und nicht ins Landjahr?"
"Wegen meiner kirschkerngroßen Flecken auf der Lunge. Ich hatte da als Sechsjährige Keuchhusten gehabt. Da ist davon etwas zurückgeblieben ... Als ich das auf dem Bauernhof im Hunsrück mal einer Verwandten des Bauern erzählt hatte, da hat die bald Zustände gekriegt und gemeint, ich hätte was an der Lunge. Das ist doch Quatsch gewesen. Da ist die sofort mit mir nach Simmern, zur nächsten Kreisstadt gefahren und hat mich röntgen lassen. War ja nichts."
"Und wieso bist Du gerade zum Hunsrück gekommen?"
"Der Hunsrück war vorgesehen ... Ich hab‘ Bescheid bekommen. Und ich war ja noch mit anderen Schülern aus unserer Schule im Hunsrück. Ein Teil war auch im Münsterland."
Auf der Fahrt zum Hunsrück (Kirchberg)
Meine Mutter absolvierte ihr Pflichtjahr im Hunsrück, dem Ort Kirchberg, in der Nähe der damaligen Bahnstation von Simmern, wo sie auch zunächst übernachtete, bevor es dann am nächsten Tag mit Zahnschmerzen zum Bauernhof weiterging.
"Da bist Du dann mit anderen zusammen an einem Tag mit dem Zug zum Hunsrück gefahren."
"Wir wussten ja gar nicht, wo wir da unterkommen ... Die Adresse war uns ja nicht bekannt."
"Mit welchen Gefühlen bist Du denn dahin gefahren?"
"Ach, das hat mir nicht viel ausgemacht."
"Also, ich überleg' mir jetzt mal: Wenn ich ein Jahr irgendwo hingefahren wäre, dann wäre ich erstmal bedrückt gewesen, weil ich nicht gewusst hätte, was auf mich zukommt."
"Ja, weißt Du, das kam bei mir erst später, wie ich das Leben auf dem Bauernhof kennenlernte, wie ich da gesehen hab‘, wie armselig das da war ... Bei der Fahrt mit dem Zug kamen wir bis abends nur nach Simmern, das in der Nähe des Orts Kirchberg lag, wo ich hin musste ... Da sind wir dort untergebracht worden bei verschiedenen Leuten, bevor wir dann den anderen Tag nach Kirchberg weiterfahren konnten ... Und an dem Abend da hab‘ ich unheimlich starke Zahnschmerzen gehabt. Wirklich, ich hätte die Wände hochgehen können. Die Leute, bei denen ich für eine Nacht untergebracht war, haben mich richtig bedauert und mir eine Tablette gegeben. Als ich dann in Kirchberg ankam, war der erste Gang der zum Zahnarzt."
"Am anderen Morgen ging's dann weiter nach Kirchberg?"
"Das war ja noch immerhin 10 Kilometer weg von Simmern, eine Station oder zwei.
In Kirchberg bin ich dann von einer Verwandten des Bauern abgeholt worden. Zugleich kam sie noch mit einer Schülerin, die zur Zeit das Pflichtjahr absolviert hatte und nun in ein paar Tagen die Heimreise antreten sollte. Die Schülerin kannte ich von Oberhausen. Sie war nur ein Jahr älter, sah aber schon aus wie achtzehn. Und ich war dagegen noch so ein kleines Mädchen, kurzer Bubikopf mit Kniestrümpfen ... Von Kirchberg war das ja noch so eine Viertelstunde zu laufen bis nach Denzen, wo der Bauernhof lag. Und da ist kein Wort auf dem Weg gesprochen worden. Da kriegte ich auf einmal so einen Bammel, weißt Du. Da hab‘ ich gedacht, sie spricht noch nicht einmal mit mir. Und wie die schon aussah!
"Erzähl mal."
Das war eine ziemlich Lange mit so einem Buckel. Die war ja nie verheiratet. Die hat dem Bauern den Haushalt gemacht, dessen Schwägerin sie war. Die Frau vom Bauern, der in den Bauernhof eingeheiratet hatte, war schon verstorben. Da war gerade ihr einziges Kind vierzehn Jahre ... Und dann hat mir die Verwandte hinterher gesagt, warum sie nicht mit mir gesprochen hat. Sie hat gedacht, 'Mein Gott, was wird mein Schwager sagen, wenn ich mit dem Mädchen, das ja noch wie ein Kind aussieht, ankomm'? Wie will sie die Arbeit schaffen?' Und das zu einem Zeitpunkt, wo gerade der 18-jährige Sohn des Bauern zum Wehrdienst eingezogen wurde und nicht mehr mithelfen konnte."
Der Bauernhof
Nach der Ankunft war der erste Eindruck des neuen Domizils deprimierend.
"Dann seid Ihr jetzt nach Denzen gekommen, und Du hast den Bauernhof gesehen."
"So was hab‘ ich überhaupt noch nicht erlebt. An dem Haus ist ja nie was gemacht worden. Der Boden der Küche bestand aus großen Steinen, die wie Pflastersteine aussahen ... Ansonsten waren im Haus Dielenbretter ... Unten im Erdgeschoss war neben der Küche noch ein Wohnzimmer, von dem ein Weg in eine Kammer führte, in der zwei Personen wohnten. Und wenn du die Treppe raufgegangen bist, dann war da oben so ein schmaler Flur, auf dem die Zimmer des Bauern und der Verwandten lagen. Am Ende des Flurs lag mein Zimmer. Da haben sie mir ein Stück vom Flur abgeschlagen."
"So eine Kammer, oder?"
"Da ging gerade ein Bett rein, und ich hatte so eine Art Holzkiste als Nachtschränkchen. Sonst war nichts drin im Zimmer. Das Zimmer selbst wurde geschlossen durch eine primitive Holztüre. Und im Flur selber, wenn ich aus dem Zimmer rauskam, da stand ein Schrank, da konnte ich meine Kleidung reinhängen. Das Ganze machte auf mich einen deprimierenden Eindruck, denn die Möbel waren alle alt und wurmstichig ... Und das Haus hatte kein Wasser. Das musstest du aus einem Brunnen holen ... Da musstest du immer vom Haus so einen kleinen Abhang runter, über die Straße ein Stückchen, und dann war der Brunnen direkt vorne an der Straße ... Es stand immer ein Eimer Wasser in der Küche, wenn man was brauchte. Du musstest dich ja auch damit waschen. Man hat sich auch nur am Spülstein gewaschen. Das war alles derart knuselig."
"Das war aber sehr mühselig."
"Das kann ich Dir sagen! Das war doch überhaupt nichts für mich, das Wasser vom Brunnen zu holen und so Lasten zu tragen. Ich war doch noch gar nicht ausgewachsen mit 14 Jahren."
"Und wie war das mit dem Wasser für die Tiere?"
"Da ist der Bauer hingegangen und hat die Kühe alle rausgeholt aus dem Stall und hat sie zur Tränke geführt, die unten im Dorf war. Das waren ja nicht viele Kühe, vielleicht vier, fünf Kühe. Aber trotzdem war das Arbeit."
Erntehelfer
Dem Bauern, dessen Sohn zur Wehrmacht eingezogen wurde, halfen verschiedene Personen, die ihm zugeteilt wurden. Meine Mutter erinnerte sich besonders an zwei junge Männer.
"Gab es neben dem Bauern selbst noch weitere Beschäftigte?"
"Zwischendurch kamen immer mal Leute, die ausgeholfen haben. Das waren auch Soldaten ... Die Bauern konnten Soldaten anfordern, wenn Not am Mann war. Am Flughafen Hahn lagen viele Soldaten. Dann haben sie vom Flughafen die Soldaten geschickt, die dann geholfen hatten ... In der Kartoffelernte kam mal einer. Das war ein Bayer, ein ganz lustiger. Der hat mir immer ein Äugsken geknipst. Und dann haben wir die Verwandte des Bauern, die für einen Scherz immer zu haben war, über einen langen Stiel, den wir gemeinsam gehalten haben, hopsen lassen. Ich hab' mich auch mit der Verwandten als Oma und Opa verkleidet ... Dann war nebenan bei einem anderen Bauernhof ein französischer Kriegsgefangener, der kam öfter mal rüber zu uns. Mit dem hab' ich mich gekebbelt. Der war so etwas wie der Mann im anderen Haus, denn der hat den Bauern vertreten."
"Du hast auch einmal von einem russischen Fremdarbeiter berichtet."
"Das war irgendwie ein Vertriebener, 16 Jahre alt. Man wusste nicht, wo er herkam ... Die haben den auf den Bauernhof geholt und mussten sich vorher wohl dafür melden, dass sie den auch haben wollten ... Der konnte auch jähzornig werden."
"Erzähl mal."
"Ja, wenn ich gemolken hab‘ und er an der Tür stand, dann hab‘ ich die Zitzen so gedreht, dass der ganze Strahl zu ihm ins Gesicht ging. Und dann, oh je, wurde er sehr wütend ... Der ist ja nachher weggekommen. Irgendwo anders hin."